Hexenei und Fliegenpilz - Exkursion in das Reich der Pilze

 

Zu einer der letzten Veranstaltungen der 4. Würselener Umwelttage begrüßte Ursula Wawra bei strahlendem Sonnenschein mehr als 60 Naturfreunde im Stadtwald. Die Pilzexkursion, die vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) angeboten wurde, stieß auf so großes Interesse, dass gleich zwei Gruppen gebildet werden mussten, um die „heimliche“ Welt der Pilze und deren faszinierende Lebensweise allen Interessierten vorzustellen.

Kaum vom Weg abgebogen, befand man sich auch schon inmitten der Zauberwelt: Hexeneier - die Jugendstadien der Stinkmorchel - lugten in großer Zahl durch die Waldstreu hindurch. Vorsichtig bewegte sich die Gruppe durch das Unterholz, wollte man die seltsamen Gebilde doch nicht zertreten. Dass ein Hexenei verzaubert sei, davon waren unsere Vorfahren übrigens überzeugt: stand es nämlich an einer bestimmten Stelle im Wald, so war es spätestens am darauffolgenden Tag verschwunden. Statt dessen befand sich dort der Stinkmorchel, ein Pilz, der seinem Namen alle Ehre macht. Innerhalb weniger Stunden „schießt“ aus dem Hexenei der fertige Pilz, der das rasend schnelle Wachstum durch Wasseraufnahme bewältigt.
Welch wichtige Funktion Pilze für unseren Naturhaushalt haben, machte Ursula Wawra im weiteren Verlauf der Exkursion deutlich. Sie sind die Hauptzersetzer im Wald und ihre Pilzfäden - auch Mycel genannt - durchziehen den gesamten Waldboden. Sie bringen mehr als das Zehnfache an Trockengewicht pro Hektar auf die Waage, als die für ihre Abbauleistung bekannten Regenwürmer, Asseln, Milben und Springschwänze. Durch ihre Arbeit entsteht also aus herabgefallenen Blättern und Nadeln neue Erde. „Ein Grund mit diesen hochinteressanten Geschöpfen vorsichtig umzugehen, das Pilzesammeln einzuschränken und das Mycel an der Stelle zu schließen, an dem ein Pilz-Fruchtkörper vorsichtig herausgedreht wurde“, so Ursula Wawra. Besonders bedrohlich sind jedoch viele Waldbaumaßnahmen: wenn mit schwerem Gerät die Humusschicht des Waldbodens aufgewühlt wird, werden die Pilzfäden zerstört.
Ob die Pilze eher zu den Pflanzen oder Tieren gehören, ist auch heute noch ein Streitthema der Wissenschaft: vieles spricht dafür, die Pilze eher zum Tierreich zu zählen, weisen sie doch in ihren Zellwänden Chitin auf, eine Substanz, die in der Pflanzenwelt nicht vorkommt.
Mit dem Pilzesammeln vorsichtig zu sein, hat auch noch einen anderen Grund: man muss sie schon sehr gut kennen, um sich nicht den Magen zu verderben, sich ungewollt in einen Rauschzustand zu begeben oder gar schwere Organschäden zu riskieren. Der Kahle Krempling z.B. galt jahrelang als essbar und ungiftig. Mittlerweile weiß man jedoch, dass mit jedem Verzehr Blutveränderungen einhergehen, bis dann plötzlich eine - übrigens für jeden Menschen individuelle - Grenze überschritten wird, die zum plötzlichen Tod führt.
Der Fliegenpilz dagegen ist weniger giftig als sein Ruf. Den Namen haben unsere Vorfahren ihm gegeben, weil sein Kopf - mit Zucker und Milch in einer Schüssel zusammengemischt - eine klebrige und stinkende Masse bildete, mit der sich hervorragend Fliegen fangen ließen. Der signalrote Pilz lebt übrigens in einer engen Lebensgemeinschaft mit der Birke: sein Mycel umwickelt die Birkenwurzeln, gibt ihnen Wasser und Stickstoff. Er erhält dafür wertvolle Kohlenhydrate von der Birke, die er selbst nicht herzustellen vermag.
Viele weitere interessante Pilzarten wurden im Laufe der Exkursion noch entdeckt. Grünblättriges Schwefelköpfchen, falscher Pfifferling und Ziegenbart: am Schluss waren alle sich einig, dass die Pilze nicht nur ein außerordentlich interessantes Leben führen, sondern auch unseren besonderen Schutz bedürfen, wenn wir auf ihre wichtige Zersetzungsarbeit nicht verzichten wollen.

(aus: „Kreisbote“ vom 12. Oktober 1994)